Bei uns gibt es keine Hierarchie. Sicher?
Viele Gründer*innen und CEOs mit denen wir sprechen und arbeiten sagen am Anfang oft: “Bei uns gibt es keine Hierarchie.” Das klingt erstmal sehr nobel und für mein Gleichberechtigungsohr wunderschön. Aber gleichzeitig werde ich direkt misstrauisch. Denn wir alle kennen die unterschiedlichsten Gruppen, wo es formal keine Hierarchie gibt, aber es doch immer die gleichen Menschen sind, die den Ton angeben. Auch in vielen Organisationen mit vermeintlich flachen Hierarchien beobachten wir eigentlich immer eine starke informelle Hierarchie. Gerade dann, wenn Führungsaufgaben formal nicht geklärt sind. Doch warum ist das so? Warum entstehen gerade, wenn man es überhaupt nicht möchte starke informelle Hierachien? Und was sagt die Wissenschaft dazu? Ich habe da mal recherchiert.
Wann und warum entstehen starke informelle Hierarchien?
Bevor wir tiefer einsteigen: es gibt in jeder Gruppe Hierarchien - entweder formell, informell oder einen Mix aus den beiden (Leavitt, 2004; Magee & Galinsky, 2008; Oedzes, 2020). Die Forschung zeigt weiter, dass Gruppenmitglieder formelle und informelle Hierarchien als Mittel zum gleichen Zweck wahrnehmen, nämlich zur Verringerung der Unsicherheit in komplexen Situationen. Ohne eine solche Komplexität sind beide Formen der Hierarchie möglicherweise überflüssig. Na was sagt uns das in einer VUCA-Welt?
Viele Organisationen versuchen heutzutage, formale Hierarchien abzubauen, um den Arbeitsplatz egalitärer zu gestalten. Zwei Hauptbeispiele für diesen Schritt in Richtung Gleichberechtigung sind Organisationen, die flache Organisationsstrukturen ohne Vorgesetzten-Untergebenen-Beziehungen einführen (z. B. Holacracy; Bernstein, Bunch, Canner & Lee, 2016), und Organisationen, die selbstverwaltete oder autonome Teams einrichten, in denen formale Vorgesetzte hauptsächlich eine Coaching-Rolle erfüllen (ohne aktiv in die tägliche Arbeit der Gruppen involviert zu sein; Lawler et al., 2001). Interessanterweise deuten die Ergebnisse der aktuellen Forschung darauf hin, dass Versuche, Gruppen formell stärker egalitärer zu machen, indem sie eine starke formale Führung reduzieren, möglicherweise nicht die beabsichtigte Wirkung haben. Tatsächlich neigen Gruppen, die an komplexen Aufgaben arbeiten, dazu, starke informelle Hierarchien zu entwickeln, wenn sie keine starke formale Führung haben. Paradoxerweise bedeutet dies, dass Organisationen unbeabsichtigt eine Art der Hierarchie (d.h. formell) durch eine andere (d.h. informell) ersetzen können, wenn sie formelle Führung abschaffen oder herunterspielen. Daher sollten Organisationen, die eine Arbeitsbeziehung auf Augenhöhe zwischen den Gruppenmitgliedern anstreben, eine starke formelle Führung beibehalten und den formellen Führungskräfte (das können auch Rollen sein) deutlich machen, ein klar definiertes Arbeitsumfeld zu schaffen, das es den Gruppenmitgliedern ermöglicht, gleichberechtigt zusammenzuarbeiten.
Das heißt aber nicht, dass Selbstorganisation nicht möglich ist! Führung muss aber formell und transparent verteilt werden. Denn die Forschung deutet daraufhin (und wir beobachtend das auch in der Praxis), dass (informelle) Gruppenhierarchien typischerweise entstehen, weil sie Mehrdeutigkeit reduzieren und Klarheit über die Rollen, Positionen und Verantwortlichkeiten der Mitglieder bieten. Wie ihr genau das auch in der Selbstorganisation schaffen könnt, findet ihr in diesem Artikel.
Also zusammengefasst:
Je schwächer die formale Führung desto stärker die informelle Hierarchie
Je komplexer das Umfeld desto mehr braucht es klare Führung (kann auch eine gut strukturierte Selbstorganisation sein). Ansonsten entsteht halt eine informelle Hierarchie.
Sind informelle Hierarchien immer schlecht?
Wie immer - es kommt darauf an. Es gibt zwei Arten der informellen Hierarchie. Leistungsbezogenen Hierarchien und dominanzbasierte Hierarchien.
Leistungsbezogene Hierarchien
Bei leistungsbezogenen Hierarchien wird Einfluss denjenigen Personen gewährt, die für ihre Fähigkeiten, ihren Erfolg oder ihr Wissen anerkannt und respektiert werden. Mit anderen Worten, Teammitglieder mit geringer Kompetenz, Wissen und Leistung in einem Bereich (wie auch immer ihr das bei euch definiert habt) erkennen bereitwillig die Kompetenz und Leistung der leistungsstarken Mitgliedern in diesem Bereich an und tauschen so ihren eigenen potenziellen Einfluss gegen bessere Beiträge für das größere Ziel (z.B. euren Purpose) durch das leistungsstärkere Mitglied ein. Im Gegenzug beansprucht das leistungsstärkere Teammitglied den Einfluss des weniger kompetenten Mitglieds für sich, oder besser gesagt, es akzeptiert ihn. Leistungsorientierte Hierarchien beruhen also auf dem freiwilligen Folgen von Teammitgliedern mit weniger Kompetenz und Leistung (Maner & Case, 2016). Indem das leistungsstärkste Mitglied in einem Bereich hier die Verantwortung übertragen wird, folgen Teams dem Rat und den Entscheidungen des Mitglieds, das die beste Leistung erbringt (Bunderson, 2003). Deshalb ist es auch so wichtig, dass ihr bei der Selbstorganisation die jeweilige Rolle an die kompetenteste Person gebt! Denn wenn alle das Gefühl haben, dass die Person eigentlich keine Ahnung hat, ist es schwer ihren Entscheidungen zu vertrauen und nicht doch informell dagegen zu wirken.
Dominanzbasierte Hierarchie
In dominanzbasierten Hierarchien geht jedoch die Behauptung von Einfluss meist der Gewährung von Einfluss voraus (Cheng et al., 2013). Das heißt, dass relativ dominante Teammitglieder ihren Einfluss geltend machen, indem sie versuchen, das Verhalten der anderen Mitglieder auf recht durchsetzungsfähige Weise zu ändern, die dann diesem Einflussversuch nachgeben, indem sie das gewünschte Verhalten zeigen (Maner & Case, 2016). Bei der Beschreibung hat bestimmt jeder so ein Exemplar direkt vor Augen oder? Diese Dominanz ist nicht notwendigerweise sehr offenkundig und zwingend. Studien zeigen, dass selbst der subtilste Akt der Dominanz eines Menschens (z. B. das Ausdehnen der Körperhaltung oder das Erheben der Stimme) zu einer automatischen Ehrerbietung der Interaktionspartner führt (Lee & Ofsche, 1981; Tiedens & Fragale, 2003). Infolgedessen stabilisieren sich solche dominant-unterwürfigen Interaktionen zu ungleichen Einflussbeziehungen, die die Teammitglieder nicht bewusst gewählt oder vereinbart haben. Diese Form der Hierarchie wird meist als unfair wahrgenommen.
Die Forschung zeigt, dass Menschen, die mit sehr dominanten Autoritätspersonen konfrontiert sind, negative Gefühle wie Ungerechtigkeit und psychologische Unsicherheit in Bezug auf die hierarchische Ordnung empfinden (Edmondson, 2003; Tost et al., 2013). Wenn Einzelpersonen eine Hierarchie als illegitim empfinden, werden sie außerdem motiviert, Maßnahmen zu ergreifen, um die Legitimität wiederherzustellen (Lammers, Galinsky, Gordijn, & Otten, 2008). Daher können Teammitglieder mit niedrigerem Rang entweder unmotiviert die Anweisungen der Mitglieder mit höherem Rang befolgen oder ein Wettbewerbsverhalten an den Tag legen, das die aktuelle Rangordnung in Frage stellt, wodurch der Statuskonflikt verstärkt und die Leistung verringert wird (Bendersky & Hays, 2012).
Trotz der Abneigung vieler Organisationen gegen Hierarchien zeigt die Forschung, dass informelle Hierarchien nicht unbedingt problematisch sind und für Gruppen sogar von Vorteil sein können. Unter den richtigen Bedingungen sind starke informelle Hierarchien richtungsweisend, und statt sie abzuschaffen, sollten Entscheidungsträger*innen in Organisationen Gruppen in die Lage versetzen, diese zu nutzen. Das kann dadurch erreicht werden, dass z.B. durch Reflexion Gruppenmitgliedern das Verständnis für die jeweiligen individuellen Leistungen erleichtert wird und die jenigen Gruppenmitglieder Einfluss (Rollen) bekommen, die in dem Bereich die besten Leistungen erbringen. Bei der Besetzung von Rollen kann daher die Frage sinnvoll sein: zu wem gehst du momentan, wenn du bei diesem Thema Hilfe/ Input/ Entscheidungen brauchst?
Diese Methode, bei der die individuelle Leistung jedes Gruppenmitglieds sorgfältig berücksichtigt wird, trägt außerdem dazu bei, die Entstehung dominanzbasierter Hierarchien zu vermeiden, die sich nachweislich negativ auf die Ergebnisse der Teamleistung auswirken.
Zusammengefasst
Dominazbasierter informelle Hierarchien solltet ihr vermeiden. Informelle Leistungsbezogene Hierarchien könnt ihr wunderbar nutzen, um eure Rolle bestmöglich zu besetzen.
hallo@allesroger.io
030 - 224 531 63
Quellen
Bendersky, C., & Hays, N. A. (2012). Status conflict in groups. Organization Science, 23(2), 323–340. https://doi.org/10.1287/orsc.1110.0734
Bernstein, E., Bunch, J., Canner, N. & Lee, M. (2016). Beyond the holacracy hype. Harvard Business Review.
Bunderson, J. S. (2003). Recognizing and utilizing expertise in work groups: A status characteristics perspective. Administrative Science Quarterly, 48(4), 557–591.
Cheng, J. T., Tracey, J. ., Foulsham, T., Kingstone, A., & Henrich, J. (2013). Two ways to the top: Evidence that dominance and prestige are distinct yet viable avenues to social rank and influence. Journal of Personality and Social Psychology, 104(1), 103–125.
Edmondson, A. C. (2003). Speaking up in the operating room: How team leaders promote learning in interdisciplinary action teams. Journal of Management Studies, 40(6), 1419–1452.
Lammers, J., Galinsky, A. D., Gordijn, E. H., & Otten, S. (2008). Illegitimacy moderates the effects of power on approach. Psychological Science, 19(6), 558–564.
Lawler, E. E., Mohrman, S. A., & Benson, G. (2001). Organizing for High Performance: Employee involvement, TQM, Reengineering and Knowledge Management in the Fortune 1000: The CEO Report. San Francisco: Jossey-Bass.
Leavitt, H. J. (2004). Top Down: Why Hierarchies Are Here to Stay and How to Manage Them More Effectively. Cambridge: Harvard Business School Press.
Lee, M. L., & Ofsche, R. (1981). The impact of behavioral style and status characteristics on social influence: A test of two competing theories. Social Psychology Quarterly, 44(2), 73–82.
Magee, J. C., & Galinsky, A. D. (2008). Social hierarchy: The self‐reinforcing nature of power and status. Academy of Management Annals, 2(1), 351–398. https://doi.org/10.1080/19416520802211628
Maner, J. K., & Case, C. R. (2016). Dominance and prestige: Dual strategies for navigating social hierarchies. In Advances in Experimental Social Psychology (pp. 129–180). Academic Press.
Oedzes, J. (2020). Informal hierarchy: an investigation into the antecedents and consequences. University of Groningen, SOM research school. https://doi.org/10.33612/diss.116926970
Tiedens, L. Z., & Fragale, A. R. (2003). Power moves: Complementarity in dominant and submissive nonverbal behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 84(3), 558–568. https://doi.org/10.1037/0022-3514.84.3.558
Tost, L. P., Gino, F., & Larrick, R. P. (2013). When power makes others speechless: The negative impact of leader power on team performance. Academy of Management Journal, 56(5), 1465–1486.