New Work needs inner work - Selbstführung als Basiskompetenz der kollektiven Führung


Viele Organisationen, die sich auf den Weg zu mehr Selbstorganisation gemacht haben, stoßen früher oder später an ihre Grenzen. Genau dann, wenn sie alle Strukturen aufgebaut und tolle agile Methoden eingeführt haben, klingelt bei uns das Telefon. Über all den sinnvollen Strukturen und auch sehr guten Methoden wurde manchmal einfach vergessen, dass Menschen Zeit brauchen, um neue Dinge zu lernen und auch eine eigene Haltung zu dem Ganzen zu entwickeln. Denn was heißt das jetzt für mich, wenn ich keinen Chef mehr habe? Wenn ich selber wichtige Entscheidungen treffen soll? Und auch, dass ich nicht einfach nur meckern kann, sondern selber den Arsch hochkriegen muss, wenn mir was nicht passt?

Um Selbstorganisation nachhaltig in der Organisation zu verankern sollte man vier Felder im Auge behalten.

In diesem Artikel schauen wir darauf, was es braucht, um die eigene Haltung zu erforschen und zu reflektieren. Zum Glück hat die Wissenschaft da auch schon mal einen Blick drauf geworfen. Eine der absoluten Basiskompetenzen für die VUCA Welt ist die Selbstführung. Wer gerne wissenschaftliche Artikel liest: ich empfehle gerne die Arbeit von Manz und Neck.

Selbstführung ist mehr als nur Zeitmanagement!

Oft hören wir: “Selbstführung kann ich schon. Ich nutze Getting things done.” - und das ist super und wichtig. Nur ist das halt keine Selbstführung. Bei der Selbstführung geht es nicht nur darum, noch produktiver zu sein und die eigenen Arbeitsprozesse zu optimieren - also das “wie” ich Dinge mache. Bei der Selbstführung geht es auch darum “warum” ich manche Dinge mache oder eben auch nicht. Es geht um die innere Führung. Wie geht es mir eigentlich? Was möchte ich wirklich? Und wie mache ich mich eigentlich die ganze Zeit fertig mit meinem inneren Quatschi?

Aber was ist dann Selbstführung?

Selbstführung zeichnet sich durch einen hohen Grad der Selbstbeeinflussung aus. Die bewusste Kontrolle über schlummernde (automatisierte und unbewusste) Prozesse entspricht der Macht über sich selbst. Wenn ich, gleich einer automatisierten „Maschine“ unbewusst durch mein Leben rausche, verfüge ich über keinerlei Selbstkontrolle. Ich muss mir erst meiner inneren Abläufe, Gedanken und Verhaltensmuster bewusst werden. Wenn ich allerdings mittels Selbstbeobachtung und systematischer Verhaltensveränderung meine inneren Prozesse anschaue und anfange zu verstehen, warum ich gerade an die Decke gegangen bin, dann ist dies ein erster Schritt zu mehr Selbstführung. Insgesamt gibt es 8 Selbstführungsstrategien, welche in drei Kategorien eingeteilt werden. Fangen wir mal mit den verhaltensfokussierten Strategien an.

Verhaltensfokussierte Strategien bei der Selbstführung

Die verhaltensfokussierten Strategien zielen unmittelbar darauf ab, das eigene Verhalten zu verändern.

Selbstbeobachtung

Wenn ich weiß was ich mache, kann ich es auch verändern. Daher startet alles damit, erstmal zu schauen, was man eigentlich den ganzen Tag so tut. Welche automatischen Programme laufen da eigentlich den ganzen Tag bei mir ab? Als ich darauf mal geachtet habe, war ich teilweise echt überrascht - man lasse ich mich leicht von Twitter ablenken. Bei der Selbstbeobachtung geht es auch darum sich der eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu werden. Wenn ich die kenne, fällt es mir auch leichter Rollen in der Organisation zu besetzen, die wirklich zu mir passen und auch selbstbewusst Verantwortung zu übernehmen.

Selbstzielsetzung

Wenn ich weiß was ich so tue und auch was ich kann, fällt es mir leichter mir auch sinnvolle Ziele zu setzen. Die Selbstzielsetzung gibt einem die nötige Stoßrichtung. Herausfordernde und spezifische Ziele sind das Schlüsselmerkmal einer jeglichen Veränderung - da leuchten in meinem Kopf direkt ein neon-rotes smartes Ziel auf. Mittels Selbstzielsetzung wird die persönliche Motivation zur Verhaltensveränderung angeregt. Eigene spezifische Ziele dienen auch als Kontrollmechanismus. Weiche ich von meinem Ziel ab und wird mir diese Abweichung mittels Selbstbeobachtung bewusst, so kann ich mein Verhalten hinsichtlich des ursprünglichen Ziels umlenken. Also solltet du zwischendurch auch mal einen Blick auf deine Ziele werfen. Denn für Ziele gilt: aus den Augen, aus dem Sinn. Das führt uns direkt zur nächsten Strategie.

Selbsterinnerung

Ich öffne eine alte Word-Datei die ich gerade auf meinem PC gefunden habe und staune - da stehen total smarte und sinnvolle Ziele, die ich mir mal vorgenommen habe. Leider habe ich sie, nachdem ich sie aufgeschrieben habe, einfach vergessen. Wegen Alltag und so. Ich gehe mal davon aus, dass es nicht nur mir so geht. Daher empfiehlt sich die Strategie der Selbsterinnerung. Eine der größten Gefahren, um wieder in alte gewohnheitsmäßige Gedanken und Verhaltensmuster zurückzufallen, besteht darin, dass die schicken Ziele schlicht und einfach vergessen werden. Die anfängliche Begeisterung, die eigenen Gedanken und Verhaltensweisen in eine gewünschte Richtung zu verändern, kann rasch verblassen und die gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster gewinnen die Überhand. Selbsterinnerung ist ein effektives Mittel, den Veränderungswunsch fortlaufend präsent zu halten. Du kannst dafür sorgen dir selber Hinweisreize zu setzen, sowohl aus der Umwelt (z.B. Notizen, Erinnerungen, Post-its, kreative Poster) als auch soziale Hinweisreize (Freunde, Verwandte, Bekannte, welchen du von deinen Zielen erzählst). Diese Hinweisreize dienen als Gedächtnisstütze, erhöhen die Motivation und den persönlichen Druck im sozialen Kontext.

Selbstbelohnung

Gerade, wenn ich irgendwas machen soll, worauf ich jetzt eher mäßig Lust habe, z.B. das Finanzamt anrufen, kann es sinnvoll sein, dass ich mir vorher eine Belohnung überlege. Zum Beispiel einen geilen Schokomuffin von der Muffin Queen neben an. Wichtig hierbei ist, dass die Belohnung an die zu erledigende Aufgabe geknüpft ist und verhältnismäßig dazu passt. Nach einer harten Arbeitsphase kann es auch mal ein 3-wöchiger Urlaub an der Nordsee sein - ein Schokomuffin wäre mir da zu mickrig. Wenn ich allerdings etwas eh schon total gerne tue - bei mir zum Beispiel häkeln - dann brauche ich mich dafür nicht zu belohnen, denn die Tätigkeit an sich ist schon Belohnung genug.

Das klingt jetzt alles noch nicht so wahnsinnig anders als die ganzen Strategien zu mehr Produktivität oder? Gut, da kommt ja noch was. Die verhaltensfokussierten Strategien legen ihren Schwerpunkt auf die Veränderung des eigenen Verhaltens. Selbstzielsetzung und Selbstbeobachtung nehmen die Rolle des selbstregulatorischen Kontrollmechanismus ein. Selbstbelohnung ist die extrinsische Belohnungen und verstärken die Verhaltensveränderung in die erwünschte Richtung. Nun kommt eins der Kernstücke der Selbstführung! Mittels natürlicher Belohnungsstrategien kannst du direkten Einfluss auf deine aufgabenbezogene intrinsische Motivation ausüben.

Natürliche Belohnungsstrategien - ähm was?!

Das klingt jetzt zugegebener Maßen etwas sperrig. Was soll das denn sein? Vermutlich nutz jede*r von uns natürliche Belohnungsstrategien. Ich zum Beispiel höre immer Musik, wenn ich mal wieder die Wohnung putzen muss. Wenn ich das mache, putze ich einfach wunderschön im Takt und das Putzen geht ganz geschmeidig von der Hand. Und schon ist das Putzen fast so schön wie Häkeln.

Die Natürlichen Belohnungsstrategien haben zwei verschiedene Herangehensweisen - die Integration von und die Fokussierung auf genussvolle Aspekte der Aufgabe.

Fokussierung

Für die erste Herangehensweise benötigst du eine positive Ausrichtung deiner Gedanken, eine erhöhte Selbstkontrolle zur Neutralisierung negativer Gedanken und eine strategische Neuorientierung hinsichtlich der Aufgabenbearbeitung ohne sich zu stark auf das Ziel zu fokussieren. Und was kannst du dir konkret darunter vorstellen? Michael Ende (1973) beschreibt genau das in seinem Buch „Momo“ am Beispiel des Straßenkehrers Beppo:

Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten … Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ (S. 35-37).

Integration

Die zweite Herangehensweise ist die mit dem Putzen und der Musik. Hier kannst du Merkmale in eine Aufgabe integrieren, damit diese von sich aus für dich natürlich belohnend wird. Das menschliche Gehirn besteht aus einem assoziativen Netzwerk. Wenn du also angenehme Aspekte mit einer Aufgabe verknüpfst, die dich sonst nicht grade jubeln lässt, dann beginnt dein Gehirn, eine Verbindung zwischen angenehmeren und weniger angenehmen Elementen herzustellen. Die unangenehmen Aspekte werden dadurch als angenehmer wahrgenommen. Wie bei der Geschichte des Straßenkehrers Beppo besteht das Ziel darin, einer Aufgabe einen bestimmten Zweck (oder auf New Work: Purpose) zuzuordnen. Damit sich deine Gedanken und dein Verhalten stärker auf das Erledigen der Aufgabe fokussieren können, müssen sowohl das Ziel als auch die damit verbundenen Belohnungen in den Hintergrund treten.

Wenn du also das nächste Mal eine unliebsame Aufgabe vor dir hast (und sie womögliche schon Tage vor dir herschiebst), probiere doch mal eine natürliche Belohnungsstrategie aus.

Und jetzt kommen wir zur den letzten Strategien.

Konstruktive Gedankenmusterstrategien - Wow

Auch dieses Set an Strategien klingt ziemlich sperrig. Doch dahinter verbergen sich drei, sehr hilfreiche, Strategien, um sich die eigenen Gedanken und inneren Saboteuren bewusst zu machen und in etwas Konstruktives zu verwandeln.

Die konstruktiven Gedankenmusterstrategien erfolgreiche Leistungen imaginieren, Selbstgespräch und Überzeugungen und Sichtweisen bewerten wirken positiv auf die verhaltensfokussierten Strategien und die natürlichen Belohnungsstrategien ein. Das Ziel liegt in der positiven Ausrichtung deiner Gedanken. Doch wie funktioniert das genau?

Erfolgreiche Leistungen imaginieren

So abgedroschen das klingt - es wirkt wirklich! Die Visualisierung erfolgreicher Leistungen dient zur Antizipation und Verwirklichung zukünftigen Verhaltens. Wenn du dir deine zukünftige Leistung genau vorstellst - also was siehst, riechst, hörst und fühlst du, wenn du dein Ziel erreicht hast- unterstützt du dabei sowohl die Selbstzielsetzung als auch deine generelle Motivation zur Zielerreichung. Denn du weißt jetzt ja wie toll es ist dieses Ziel zu erreichen, weil du es in deinem Kopf schon mal mit allen Sinnen erlebt hast. An dieses Bild kannst du dich jetzt immer erinnern, wenn deine Motivation sinkt. Du weißt jetzt wofür du das Ganze machst.

Selbstgespräche

Wir alle reden die ganze Zeit mit uns selbst. Doch meist geschieht das eher unbewusst und verborgen in unserem Kopf. Leider ist die Stimme im Kopf der meisten Menschen weniger ein Cheerleader und mehr ein innerer Kritiker, der sie die ganze Zeit fertig macht. Das ist natürlich nicht hilfreich. Beim Selbstgespräch im Rahmen der Selbstführung verbalisierst du positive Gedanken laut oder leise. Und du beginnst erstmal damit, dir zu zuhören, also womit machst du dich eigentlich so richtig fertig? Negative Selbstgespräche wirken kontraproduktiv, insbesondere wenn sie auf die eigene Person bezogen sind („Ich bin einfach ein Versager“; „Ich bin zu dumm dafür“; „Ich schaffe das nie“). Die Folge sind eine geringe Selbstwirksamkeit (d.h. du verlierst den Glauben an die eigenen Fähigkeiten), ein geringer Selbstwert und Misserfolg. Auf Basis der persönlichen Gedanken kann das menschliche Gehirn demnach positiv oder negativ „programmiert“ werden. Wenn du dir also mal selber zugehört und die Top 5 Beschimpfungen deines inneren Kritikers entdeckt hast, kannst du anfangen diese zu eliminieren und durch positive Selbstgespräche zu ersetzen. Und übrigens: laute Selbstgespräche (z.B. alleine im Auto, in der Dusche) sind effektiver als leise Selbstgespräche. Nach dem Prinzip der positiven Verstärkung solltest du positive Selbstgespräche insbesondere nach einem Erfolg nutzen („Ich kann es“; „Ich wusste, dass ich es schaffe“).

Überzeugungen und Sichtweisen überprüfen

Das Ziel der letzten Strategie liegt darin, dysfunktionale („negative“) Gedanken zu erkennen und sich bewusst mit ihnen zu beschäftigen. Was denke ich eigentlich über die Welt? Sind für mich alle Menschen schlecht oder steckt doch in jedem etwas Gutes? In einem zweiten Schritt kannst du die irrationale Überzeugungen durch konstruktive (positive) Gedankenmuster ersetzen. Das ist wichtig (!), denn wenn du im Gehirn den alten Gedanken-Pfad nicht mehr nutzen möchtest, brauchst du einen anderen auf dem du gehen kannst. Da so deine negativen Gedanken durch bewusste Selbstreflexion nicht mehr unterstützt und verfolgt werden, bilden sie sich mit der Zeit zurück und werden weniger dominant. Damit du leichter negatives Denken erkennen kannst, stelle ich dir hier 11 zentrale Kategorien vor, die dysfunktionales (destruktives und negatives) Denken charakterisieren:

Extremes Denken

Dies entspricht dem typischen Schwarz-Weiß-Denken. Wenn du beispielsweise ein sehr gewissenhafter Mensch bist, der normalerweise alles zu 100% macht, stellt ein 99% Ergebnis für dich Komplettversagen dar.

Übergeneralisierung

Ein bestimmter Fehler bei einer Aufgabe oder ein negatives Resultat werden verallgemeinert. Ein typischer destruktiver Gedanke wäre: „Jetzt habe ich hier einen Fehler gemacht, das ist typisch für mich, alles was ich anpacke, mache ich falsch“.

Mentaler Filter

Legt den Fokus auf ein einzelnes negatives Detail. Alle anderen (positiven) Aspekte werden ausgeblendet.

Disqualifizierung des Positiven

Einer positiven Erfahrung wird keine Bedeutung zugeschrieben.

Gedankenlesen

Jemand verhält sich komisch und du glaubst zu wissen, dass es was mit dir zu tun hat? Obacht! Vielleicht übst du dich gerade im Gedankenlesen. Auch wenn es objektiv nicht belegbar ist, werden in spezifische Situationen negative Schlussfolgerungen hineininterpretiert.

Wahrsagerei

Willkürliche Vorhersage: Pass mal auf, am Ende geht doch alles schlecht aus.

Über- und Untertreibung

Negative Aspekte werden übertrieben und positive Elemente untertrieben.

Emotionale Schlussfolgerungen

Du bist nicht gut drauf und heute ist alles scheiße? Vielleicht bist du gerade in der Schleife der emotionalen Schlussfolgerung. Diese ist gekennzeichnet davon, dass die Realität auf Basis negativer Emotionen und Erfahrungen interpretiert wird.

„Sollte“-Aussagen

Jemand sollte doch mal was machen? Die Verwendung von „sollte“ kann tatsächliches Handeln verhindern.

Stigmata

Die Person drückt sich selbst, anderen Personen oder einer Situation einen negativen Stempel auf („Ich bin ein Versager“; „Er ist ein Lügner“).

Personifizierung

Du siehst dich selbst als Ursache für alle negative Ereignisse und Konsequenzen? Na, da personifizierst du wohl.

Und hast du dich beim Lesen der 11 Kategorien ertappt gefühlt? Wenn ja, ist das großartig! Dann hast du schon den ersten Schritt gemacht, um dich von den dysfunktionalen Denkmustern zu trennen.

Alle können Selbstführung lernen

Beim Lesen dieses Artikels hast du bestimmt häufig gedacht: “Ach das mache ich doch schon!” So geht es den meisten Menschen. Jede*r nutzt schon die eine oder andere Technik in verschiedenen Situation. Und darauf kannst du jetzt aufbauen. Du kannst diese Strategien nun bewusster einsetzen und dich nochmal ganz genau beobachten: was mache ich eigentlich den ganzen Tag und wie rede ich mit mir? Das ist der erste Schritt zu mehr Selbstführung und die wichtigste Kompetenz, um kollektive Führung leben zu können.










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Safety first - Psychologische Sicherheit in der Selbstorganisation

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