Wie Kanban unser Arbeitsleben verbessert
Text von Jens Hündling und Heidi Dommaschke
Drei Emails parallel schreiben, die Folien für die Präsentation morgen müssen raus, der Slack-Channel zum Projekt glüht unterdessen auf dem Handy, der Kalender erinnert vorwurfsvoll an das Team-Meeting und wo ist nochmal der Browser-Tab hin mit der wichtigen Information die ich vor zehn Minuten fand … Wer kennt nicht diesen modernen Arbeitsalltag mit zu vielen offenen Aufgaben, die scheinbar nie richtig fertig werden?
Um diese Komplexität der Multi-Aufgaben-Gleichzeitigkeit in den Griff zu bekommen (Multitasking kann nämlich niemand richtig gut), führen die Komplexitäter am 24. Juni 2020 im New Work Berlin Online-Meetup einen ebenso anschaulich wie einprägsamen Workshop durch. Hinter den Komplexitätern verbergen sich die drei agilen Experten Andreas Lehmann, François Canonne und Lars Nebe.
Workflow mit Hindernissen
Die drei Experten moderieren jeweils drei einzelne Breakout Sessions in dem New Work Berlin Meeting mit ca. 10 Teilnehmenden. In extrem kurzweiligen 75 Minuten erfahren wir, dass wir mit unserer intuitiven Annahme darüber, wie Arbeit durch die von uns ausgedachten Systeme fließt, ganz schön daneben liegen können und erleben es in einem virtuellen Arbeitssimulations-Tool der Komplexitäter: dem Kanban Flow Simulator.
In jeder Gruppe wird das Team der Arbeiter*innen erstmal auf Arbeitsstationen verteilt. Dabei bekommt jede*r Einzelne eine Aufgabe in einer virtuellen Schiffsfabrik. Dies ist eine browser-basierte Simulation einer Produktionsstraße, in der Schiffchen gezeichnet …äääh… produziert werden. Durch diese kleine, eher triviale Aufgabe gewinnen die Teilnehmer*innen tiefe Erkenntnisse über Arbeitsorganisation und Workflows. Kundenaufträge für Schiffe gibt es genügend im Backlog. Richard nimmt sich als erster einen Auftrag aus dem Backlog und zeichnet in seinem Browser: er legt den Kiel des Schiffes. Ist er fertig damit, schiebt er den Auftrag direkt an Luisa weiter, die das Deck anfertigt und ebenfalls weitergibt. Als nächstes richtet Jens den Mast, Marina schnitzt den Bug und so geht es weiter. Nach sechs Stationen ist das Schiff fertig produziert und der Kundenauftrag somit beendet. Der letzte Arbeitsschritt ist übrigens bei Lisa, die das Segel “anfertigt”, was etwas länger dauert, als beispielsweise der Mast. Daher beginnen sich die Arbeitsaufträge bei Lisa zu stauen. Doch dazu später mehr.
Nach einem kleinen Testlauf geht es richtig los: Ziel ist, so schnell wie möglich zu arbeiten. Schiffchen wandern also von Arbeitsstation zu Arbeitsstation. Es kommen immer neue Aufträge aus dem Backlog in die Produktionsstraße nach dem FIFO Prinzip -First In, First Out. Außerdem arbeiten wir nach dem Push-Prinzip und schieben somit einen Auftrag sobald er fertig ist, auf die nächste Station.
Alle geben ihr Bestes und wir arbeiten so effizient wie möglich ihre eigenen Aufträge ab. Wie eigentlich jeden normalen Arbeitstag wollen wir möglichst schnell die Aufgaben vom eigenen Schreibtisch weg-erledigen und sehen mit kleiner Erleichterung, wie sich auch bei anderen die Arbeit stapelt. Nach vier Minuten eifriger Produktion folgt ein Stopp in der Simulation: Der letzte Kundenauftrag wird markiert und wandert durch die Produktionsstraße. Da hier noch einige Schiffe an den Stationen rumliegen und sich vor allem bei Lisa ein Engpass beim Segel abgezeichnet hat, dauert es etwas, bis das markierte letzte Schiffchen endlich fertig ist. Das Bottleneck ist entscheidend!
Change: eine Pull-Arbeitsweise
Der Engpass ist natürlich schnell bemerkt. Beim Stopp liegen in der Produktionsstraße zwölf unfertige Schiffchen rum. Dies ist die Anzahl der offenen Aufträge, auf die unsere Kunden warten: Work in Progress (WIP). Am Ende warten alle Arbeiter auf Lisa, die unter Hochdruck ihren Stapel an Arbeit wegarbeiten muss bis wir endlich in den (virtuellen) Feierabend können.
Unser simulierter Manager (einer der Komplexitäter) ändert nun die Arbeitsweise im System für den nächsten simulierten Arbeitstag in zwei Punkten:
Erstens stellen wir unsere Arbeit auf Pull um: wenn ich fertig bin, warte ich auf meinen Nachfolger, bis er mir mein Schiffchen abnimmt.
Zweitens darf an jeder Station jeweils nur ein Schiffchen liegen. Wir führen ein Work In Progress (WIP) Limit von Eins ein.
Als der simulierte zweite Tag beginnt, beobachten wir ganz schnell, dass es mehr Pausen gibt. Ich kann nur dann weiterarbeiten, wenn mein Nachfolger mir meine Arbeit vom Arbeitsplatz nimmt. Somit muss ich ab und an einfach warten. Gefühlt leidet meine eigene Produktivität darunter. Zum Ende des vier minütigen Arbeitstages wird wieder das letzte Schiffchen markiert. Dieses flutscht dann allerdings recht schnell durchs System, weil es keinen Stau am Engpass gibt.
Was beobachten wir am Pull und Limit Tag?
An unserem 1. Simulationstag zeigte sich ein Stau am Engpass und am 2. Simulationstag einige Pausen an den Arbeitsstationen. Das Online-Tool der Komplexitäter verfügt über eine Kennzahlenmessung, die wir uns gemeinsam anschauen. Erstaunlicherweise ist der Durchsatz, also die Anzahl der Schiffe die wir pro Minute schaffen, ziemlich gleich - trotz der gefühlten Pausenzeiten an den meisten Arbeitsstationen. Das liegt daran, dass der Durchsatz durch die Arbeitsstation begrenzt wird, die am längsten braucht. Dies ist der Engpass. Der Gesamtdurchsatz eines System ist vollständig durch den Engpass bestimmt. Eigentlich total klar und dennoch fühlt es sich unerwartet an.
Die zweite ausgewertete Kennzahl ist der WIP: Work In Progress. Im ersten Simulationstag steigt dieser stetig an. Da ungebremst immer neue Aufträge ins System geschoben werden (push) und diese sich am Engpass aufstauen, liegt sehr viel angefangene Arbeit in der Produktionsstraße rum. In der zweiten Simulation gibt es keinen Stau und auf jeder Station liegt maximal ein unfertiges Produkt rum.
Der Kanban-Flow-Simulator zeigt die Durchlaufzeit als weitere Kennzahl. Während die Durchlaufzeit in der ersten Simulation stetig ansteigt, ist sie in der zweiten Runde recht konstant bei 80 Sekunden. Was bedeutet das? Wenn das Produktionssystem erstmal läuft, können wir im ersten Fall dem Kunden kaum eine Voraussage machen, wie schnell wir den Auftrag bearbeiten können, was sehr unbefriedigend für ihn sein wird.
Das Modell zur Praxis
Bei der interaktiven Auswertung erfahren wir noch einiges über die Theorien dahinter, über Kanban Boards, Little’s Law: Durchlaufzeit = WIP / Durchsatz und zum Hintergrund der Simulation der Schiffsproduktion. Es schließen sich spannende Gedankenspiele an:
Verbessert sich eine Station, die nicht der Engpass ist, ist es noch schlimmer, denn der WIP steigt und der Durchsatz hängt immer noch am Engpass.
Jede Verbesserung am Engpass ist eine Verbesserung am Gesamtsystem. Arbeitet z.B. ein seltener Fachexperter am Engpass, soll dieser nun unterstützt werden. Auch wenn die Unterstützung vergleichsweise viel schlechter ist als der Experte am Engpass, dann wird immer noch der Durchsatz erhöht.
Bei 100% Auslastung eines System kommt es zum Stau überall. Die Folge ist absoluter Stillstand und niemand kommt zum arbeiten
Und was passiert eigentlich, wenn alle Kunden nur grüne Schiffe bestellen?
Die Komplexitäter berichten der New Work Berlin Community, dass sie diese Ideen zur Komplexitätsbewältigung einsetzen, denn sie beobachten diese Herausforderung bei ihren Kund*innen. Durch Digitalisierung und Globalisierung ist die neue Arbeitswelt komplex und gleichzeitig hängt alles zusammen.
Während früher kluge Führungskräfte alle Informationen sammelten, die Zusammenhänge verstanden und dann Entscheidungen trafen ist das mit steigender Komplexität heute auf diesem Weg kaum möglich. Daher ist der New Work Ansatz hier die Optimierung des Arbeitssystems auf Veränderungsfähigkeit: kurze Lernzyklen, schneller Neues ausprobieren, lernen und anpassen. Somit wird Veränderungsfähigkeit in die Organisation eingebaut, wie wir in unserem Training erleben konnten.
Doppeltes Learning
Wir reduzierten die WIP und schauten uns den Durchsatz an, bekamen schnelles Feedback durch das System, beobachteten die Durchlaufzeit. In der Realität wäre dieses schnelles Feedback zum Beispiel vom Markt selbst zu bekommen, Produkte werden angepasst und modifiziert wieder in den Markt geführt.
Eine zweite wichtige Erkenntnis im Meetup: Im WIP-limitierten System haben wir die Freiheiten, uns mit anderen Gedanken zu beschäftigen. Plötzlich ergibt sich Zeit - für Kreativität und Freiraum um uns weiterzubilden und neue Ideen auszuprobieren.
Die Komplexitäter beschreiben, wie sie das Kanban Board als Routingsystem einsetzen um das Gesamtsystem im Auge zu behalten und nicht in lokale Optimierung zu verfallen. Die Arbeit wird dadurch visualisiert. Diese Darstellung des Arbeitsablaufes ist der erste Schritt des Kanban Prinzips. Es hilft bei der Prozessmodellierung der ungewohnten Arbeitsschritten. Typischerweise gibt es schnell eine blocked-Spalte: Dinge die nicht mehr vorankommen. Im Kanban Gedanken ist das genau die Stelle zur Optimierung, in dem auf den Engpass fokussiert wird.
Mehr über die Komplexitäter erfahrt ihr unter: https://www.komplexitaeter.de/ Sie unterstützen Unternehmen bei Themen der Komplexität und arbeiten dabei sowohl als Scrum Master als auch als Begleiter von agilen Transformationen mit Werkzeugen wie Kanban, Scrum und vieles mehr.