Wofür brauche ich eigentlich dieses aktive Zuhören?
Als ich neulich bei meinen Eltern war und geholfen habe das Gartentor aufzubauen, ist mir aufgefallen wie lange mein Vater vor jedem einzelnen Schritt überlegte. Als ich noch jünger war, hat mich dieses Nachdenken regelmäßig wahnsinnig gemacht, weil ich immer viel schneller mit dem Denken fertig war als er. Heute bin ich von seiner Ruhe beeindruckt. Und tatsächlich hat sich das 'lange Denken' am Ende bezahlt gemacht - wir mussten das Tor nur einmal aufbauen und alles war gerade, stabil und hat auf Anhieb gepasst.
Uns fehlt die Ruhe
Im Unternehmenskontext erlebe ich es sehr häufig, dass den Menschen die Ruhe fehlt. Alles muss schnell gehen, die To-Do-List muss abgearbeitet werden und die Deadlines rücken immer näher. In dieser Hektik vergisst man schnell einige Dinge, die ganz wesentlich sind. Das Zuhören zum Beispiel. Ein Paradebeispiel war für mich ein Klient, dem ich eine einfache Frage per Mail schickte, die mit einem einzigen Satz beantwortet hätte sein können. Stattdessen entwickelte sich ein Hin und Her mit kurzen Antworten und erneutem Input von mir, um die Frage noch konkreter werden zu lassen. Schlussendlich bekam ich die Antwort, weil dem Klienten "noch etwas eingefallen war" - die Frage war immer noch nicht durchgedrungen. Ein aufmerksames Lesen (oder ein kurzer Anruf) hätten uns diesen Gesprächsverlauf erspart.
Wann auch immer lediglich das gesprochene Wort zählt - in einem Gespräch, Coaching, Training oder Workshop - wird die Fähigkeit genau zuzuhören noch wichtiger. Meistens ersparen wir uns durch das genaue Zuhören doppelte Arbeit und gewinnen eine engere Verbindung, mehr Vertrauen und Respekt.
Was heißt eigentlich 'genau zuhören'?
Genaues Zuhören wird auch aktives Zuhören genannt. Beim aktiven Zuhören geht es darum, sich von seiner eigenen Gedankenwelt frei zumachen und dem Gegenüber volle Aufmerksamkeit zu schenken. Was normalerweise beim Zuhören passiert, siehst du in der Abbildung. Blau hat gerade einen guten Tag und freut sich auf den Feierabend. Bei Grün sieht das anders aus. Wenn Grün zu Blau "Ich habe ein Problem." sagt, antwortet Blau "Das hat doch sicher noch Zeit bis morgen." Es findet kein aufrichtiger Austausch statt und beide haben auch nach dem Gespräch keine Ahnung davon, wie es dem Anderen geht.
Gleiches gilt, wenn wir an bestimmten Themen arbeiten. Häufig haben wir schon ein sehr genaues Bild davon im Kopf, wie die Lösung aussehen soll. Dadurch verbauen wir uns die Gelegenheit in die Denkblase von Blau oder Grün einzusteigen und eine neue Perspektive zu sehen und etwas dazu zu lernen. Normalerweise hören wir zu, indem wir zum Beispiel folgende Dinge sagen:
Das kenne ich, ist mir auch schon mal passiert.
Ich kann mir genau vorstellen, wie du dich gefühlt hast. Einmal, im Meeting ...
Das kann doch nicht sein. Was für ein Mensch ist diese schreckliche Person!
Das ist nicht wirklich passiert, oder? Na dem hätte ich was erzählt.
Mit diesen Sätzen signalisierst du zwar, dass du irgendwie auf der gleichen Seite bist, wie dein Gegenüber, lenkst das Gespräch aber auch schnell wieder auf dich. Denn gedanklich bist du bei dir. Du suchst nach Gemeinsamkeiten, überlegst, ob du schon einmal in einer solchen Situation warst und dann gibst du einen Ratschlag, was zu tun ist.
Beim aktiven Zuhören läuft das anders. In diesem Fall trittst du gedanklich in die Gedankenblase deines Gegenübers ein, und fühlst dich hinein. Wie geht es ihm jetzt in diesem Moment in seiner Situation? Was hat er erlebt, was ist wichtig für ihn und was müsste passieren, damit es ihm besser geht?
Was bringt mir das aktive Zuhören und wann kann ich es nutzen?
Wenn du deinem Gesprächspartner deine volle Aufmerksamkeit schenkst, stärkst du eure Vertrauensbasis. Du zeigst Interesse, Wertschätzung und dein Gegenüber fühlt sich verstanden. In der Konsequenz heißt das, dass Missverständnisse verringert werden - ihr spart euch doppelte Arbeit - ihr lernt voneinander, arbeitet besser im Team zusammen und könnt Probleme schneller lösen. Das aktive Zuhören kannst du immer dann für dich nutzen, wenn es besonders wichtig für dich ist, genau zu verstehen, was in deinem Gesprächspartner gerade vorgeht, z.B. im Mitarbeitergespäch, im Meeting oder einer Verhandlungssituation. Anstatt zu fragen: Hast du alles verstanden? Probiere es das nächste Mal einfach mit "Worauf haben wir uns jetzt geeinigt?".
Ein Beispiel
Aktives Zuhören
Jens: „Sorry, dass ich unseren Jour Fixe gestern verpasst habe. Ich habe zurzeit wahnsinnig viel um die Ohren.“
Nora: „Du erstickst in Arbeit.“
Jens: „Ja, ich komme jeden Morgen um halb acht ins Büro, um halbwegs Herr der Lage zu werden, aber es scheint sinnlos. Gestern kam die Chefin mit einem riesigen neuen Projekt.“
Nora: „Das hat dir natürlich ein zusätzliches Arbeitspensum beschert, obwohl du eh schon zu viele Projekte auf dem Tisch hast.“
Jens: „Ja. Und gleichzeitig meinte sie dabei scheinbar beiläufig, dass das neue Projekt echt wichtig sei. Wenn der Kunde damit nicht zufrieden ist, rollen Köpfe.“
Nora: „Das würde mich wahnsinnig unter Druck setzen. Glaubst du, dass sie damit dich persönlich meint und dein Job in Gefahr ist?“
Jens: „Auf jeden Fall. Ich fühle mich schrecklich, ich kann kaum noch schlafen. Langsam merke ich außerdem, dass es Auswirkungen auf meine Ehe hat.“
'Normales Zuhören'
Jens: „Sorry, dass ich unseren Jour Fixe gestern verpasst habe. Ich habe zurzeit wahnsinnig viel um die Ohren.“
Nora: „Kein Problem, kenne ich.“
Nora fragt nicht nach, aus welchen Gründen Jens den Termin verpasst hat. Sie kennt die Situation, zu viel zu tun zu haben und geht davon aus, dass Jens sich in der gleichen Situation befindet.
Es entsteht keine Verbindung zwischen den Beiden.
Dadurch, dass sich Nora beim aktiven Zuhören nicht selbst eingebracht und Interesse gezeigt hat, hat sie Jens die Gelegenheit gegeben, sie mit in seine Welt zu nehmen. Na klar scheint es auf den ersten Blick, dass wir in der Arbeitswelt eventuell Version eins bevorzugen würden. Das hieße allerdings auch, dass wir „verheimlichen wollen“, dass wir alle Menschen sind, Emotionen haben und nicht wie Maschinen funktionieren.
In Version 2 kann Nora entsprechend auf Jens eingehen, ihm keine zusätzliche Arbeit aufbürden und ihm eventuell noch etwas abnehmen. In Version 1 geht sie davon aus, dass es momentan etwas stressig ist und kann kein richtiges Verständnis aufbringen, weil bei ihr „wahnsinnig viel um die Ohren“ bedeutet, dass sie es nur zwei Mal anstatt drei Mal die Woche während der Mittagspause zum Sport schafft.
Techniken des aktiven Zuhören
Was genau ist also zu tun, um das aktive Zuhören zu praktizieren? Am besten schnappst du dir für den Anfang einen guten Kollegen oder einen Freund / Freundin, mit der du dich ausprobieren kannst. Gut ist auch eine Konstellation zu dritt: zwei unterhalten sich und einer beobachtet, dann tauscht ihr. Der Beobachter teilt nach jeder Runde was er gesehen hat, was neu war und was er für sich nutzen kann.
Bitte nun deinen Trainingspartner, dir von einer kurzen Situation zu erzählen, beispielsweise einen kurzen Streit oder ein Mittagessen, dass er diese Woche hatte. Gut ist eine Situation, die die Person nicht in völliger Gleichgültigkeit erlebt hat. Nun versuche, so viel wie möglich über dieses Ereignis zu erfahren. Mit folgenden Techniken, gelingt dir das:
Paraphrasieren – die Aussage mit eigenen Worten wiederholen
Nachfragen – Was ist dann passiert?
Verbalisieren – „Du hast dich geärgert.“ Dein Gesprächspartner regt sich sehr auf, sagt aber nicht, dass er sauer ist, sondern spricht darüber, was passiert ist.
Zusammenfassen – Lange Geschichte, kurzer Sinn: Du konntest den Kunden nicht erreichen.
Klären – Ich habe verstanden, dass du möchtest, dass ich deine Reisekosten abrechne. Stimmt das so?
Weiterführen – Danach warst du sehr verärgert und bist nach Hause gegangen?
Abwägen – Hast du dich mehr darüber geärgert, dass du den Kunden nicht erreichen konntest, oder eure Ware nicht geliefert wurde?
Spiegeln – „Ich merke, dass ich gerade sehr sauer darüber werden. Wie erlebst du die Situation?“ Du merkst, dass du in diesem Moment sehr ärgerlich wirst, dein Gegenüber zeigt wenig Gefühlsäußerungen. Häufig passiert es, dass wir die Gefühle unseres Gegenübers annehmen. Vielleicht ist es dir schon passiert, dass du sehr nervös geworden bist, wenn jemand neben dir sehr nervös war.
Pacing & Leading – Mit diesen Techniken baust du Vertrauen auf und stimmst dich gleichzeitig auf deinen Gesprächspartner ein. Pacing bedeutet, dass du die Körperhaltung deines Gegenübers annimmst, beim Leading nimmt deine Gegenüber deine Haltung an.
Reframing – Du setzt ein Ereignis in einen anderen Kontext, um die Wahrnehmung zu verändern.
Eigene Wertungen, Ratschläge und Geschichten werden dabei völlig herausgelassen. Du lässt dich darauf ein, dich und deine Welt für einen kurzen Moment komplett außer Acht zu lassen. Eine besondere Herausforderung dabei ist es, Pausen auszuhalten und zuzulassen. Solange du im Gesicht deines Gegenübers siehst, dass die Gedanken noch arbeiten, versuchst du, nichts zu sagen.
Darüber hinaus ist das empathische Zuhören ein weiteres Mittel, um insbesondere in die Gefühls- und Bedürfniswelt deines Gegenübers einzusteigen. Mit gezieltem Wiederholen und Nachfragen nach Gefühlen und Bedürfnissen, kannst du das Gespräch in eine Richtung lenken, die den „Kern“ des Problems trifft. Im Falle von Jens und Nora könnte eine Fortführung des Gesprächs mit empathischem Zuhören so aussehen:
Nora: „Du hast Existenzängste. Du fürchtest, dass du deinen Job verlieren wirst, egal was du tust.“
Jens: „Ja.“
Nora: „Und gleichzeitig merkst du, dass deine Work-Life-Balance aus den Fugen gerät. Du wünschst dir soziale Unterstützung und Rückhalt und echte Erholung.“
Jens: „Ja, das wäre schön.“
Nora: „Das kann ich gut verstehen.“
In dem Nora auf den Punkt gebracht hat, wie es in der Welt von Jens aussieht, hat er sich verstanden gefühlt. Gleichzeitig ist Jens nun bereit dafür einen Ausflug in Noras Welt zu machen und sich so eventuell Anregungen dazu zu holen, was er selbst unternehmen könnte, um seine eigene Situation zu verändern.
Ein Tipp für aktives Zuhören
Wenn du häufig mit Kollegen zu tun hast, die nicht aufhören zu sprechen, hilft dir das aktive Zuhören. Wenn du kurz zusammenfasst, was dein Kollege gerade gesagt hat, weiß er, dass du ihn verstanden hast. Das beruhigt ihn und er kann gedanklich zum nächsten Thema übergehen.
Spätestens seit dem 2. Lockdown sind wir daran gewöhnt, im Homeoffice Videokonferenzen, Co-Kreative Online-Meetings Projekt-Updates, Webinare, Sales Pitches, Vorstellungsgespräche, ganze Onboarding-Prozesse und Teambuilding parallel durch 5 verschiedenen Tools durchzuführen. Brauchen wir dann überhaupt noch das Office?